Alphasäule

Die Breitwangflue ist in der Schweiz das Mekka für Eis- und Mixed-Kletterer. Vorausgesetzt, man ist den Schwierigkeitsgraden gewachsen, denn einfache Routen findet man hier keine. Nachdem ich die letzten Jahre bereites jeweils zweimal den Super-Klassiker «Crack Baby» sowie «Metro» klettern konnte, wollte ich mich diesen Winter an etwas Neues wagen. Mein Favorit war die «Alphasäule» links neben «Crack Baby», eine 370 m hohe Linie komplett im Eis, welche über eine wilde, überhängende Säule führt, die nicht ohne Grund mit dem Schwierigkeitsgrad WI 6+ bewertet ist. Nach einem zaghaften Wintereinbruch, der einmal mehr viel zu warm war, zeichnete sich Ende Januar ab, dass sich die Alphasäule dieses Jahr tatsächlich bilden könnte. Mein Traumziel für diesen Winter stand also fest.

Bereits Mitte Februar unternahm ich mit Victor aus Barcelona einen ersten Versuch. Bei idealen Wetterverhältnissen und nach einem Zustieg in Rekordzeit, kletterten wir bis unter die gigantische Alphasäule. Die Eisverhältnisse waren leider nicht ganz so ideal. Wir mussten viel weiter links als üblich einsteigen. Das spröde Eis in der ersten Seillänge, welches teilweise von einer Kruste überzogen war, stellte sich trotz der modaraten Steilheit als ziemlich anspruchsvoll, bzw. etwas unberechenbar zum Klettern heraus. In der zweiten Seillänge war das Eis wieder besser, dafür erwartete uns eine senkrechte Passage von etwa 30m, die bereits einiges an Kraft abverlangte. Danach kam eine weniger steile Seillänge über Blumenkohleis bis zum Stand unter der Alphasäule. Die Säule war zwar bereits bis unten verwachsen, allerdings endeten hier alle Spuren unserer Vorgänger.

Schnell wurde klar, wieso noch niemand die Säule geklettert war. Etwa sieben Meter über dem Einstieg erwartete einem auf beiden Seiten der Säule ein rund zwei Meter weites Dach mit bedrohlichen Eiszapfen, während vorne über die Säule genug Wasser tropfte, um jeden Kletterer innerhalb von Minuten bis auf die Socken zu durchnässen.

Nichtsdestotrotz machte ich mich parat um mein Glück an der Alphasäule zu versuchen. Ich wählte als Einstieg die linke Seite, wo das Dach etwas weniger gross war als auf der rechten Seite. Victor musste sich am Stand unten gut vor den runterfallenden Eisbrocken schützen, die ich beim Hochklettern ausräumte, um auf einigermassen kompaktes Eis zu stossen. Weil das Eis voller Luftlöcher war, sparte ich nicht mit Eisschrauben. Trotzdem fühlte ich mich alles andere als wohl in dieser überhängenden Säule. Das Eis war so röhrig, dass ich jederzeit damit rechnen musste, dass meine Eisgeräte ausbrechen würden. Je näher ich dem grossen Dach oben mir kam, desto unwahrscheinlicher schien es mir, es überwinden zu können.

Ich entschied mich deshalb, langsam wieder abzusteigen und möglichst einen Sturz in dem röhrigen Eis zu vermeiden. Als ich am Abseilen war und nochmals die Säule studierte, viel mir auf, dass es durchaus möglich gewesen wäre, das riesige Dach zu umgehen, indem man kurz vorher nach rechts in die Mitte der Säule traversiert. Bei der Dusche dort war das allerdings auch keine sehr verlockende Vorstellung.

Drei Wochen später stand ich erneut mit meinem alten Eiskletter-Partner René Kämmerer auf der Breitwangflue. Es war der letzte kalte Tag für eine Weile und es schneite ununterbrochen. Wir liessen uns deswegen nicht von unserem Plan abbringen, auch wenn wir an dem Tag erst spät starten konnten und eine halbe Ewigkeit brauchten, bis wir die 1000 Höhenmeter mit den Tourenski durch den Tiefschnee bis zur Wand hochgespurt hatten. Weil ich noch etwas geschwächt war von einer Magendarmgrippe, war ich froh, dass René die meiste Zeit voran ging. Die Sicht war auf ein paar Meter beschränkt und wir hatten alle Mühe, den Einstieg zu finden.

Kaum hatten wir den Wandfuss erreicht, wurden wir von den ersten Spindrifts empfangen, so dass wir entgültig aussahen wie Schneemänner. Ein fieser Wind brachte uns zum frieren und unsere Hände und Füsse fühlten sich bereits eiskalt an. Nachdem wir in dem pulvrigen Tiefschnee endlich so etwas wie eine Ebene für uns und unsere Rucksäcke gestampft hatten, durften wir noch von den Skischuhen in die Bergschuhe umsteigen, was uns einiges an Überwindung kostete. Mittlerweile war es bereits halb zwei Uhr nachmittags.

Das Eis in den ersten Seillängen war etwas besser geworden seit dem letzten Mal, war jedoch immer noch spröde und anspruchsvoll. Abgesehen von dem Schneefall und den regelmässigen Spindrifts, die uns immer wieder erfrischten, lief alles nach Plan. Alles brauchte an dem Tag etwas länger als sonst, so dass es bereits später Nachmittag war, als wir endlich unter der imposanten Alphasäule standen. Schon erstaunlich, wie viel Zeit man verlieren kann, wenn das Wetter schlecht ist. Diesmal gab es deutliche Spuren von früheren Begehungen und die Säule war zu unserer grossen Freude fast komplett trocken.

Wir waren beide völlig steif vor Kälte und wollten keine Zeit verlieren. Alle Eisschrauben, die wir mit dabei hatten, verteilte ich fein säuberlich auf die Materialkarabiner an meinem Klettergurt, schüttelte noch einmal lange die Arme um die Blutzirkulation anzukurbeln und stieg schliesslich von rechts in die Säule ein. Das Eis war um einiges besser als bei meinem ersten Versuch. Es gab kein morsches Eis mehr, dass man hätte abräumen müssen und ich fand immer wieder gute Löcher zum Hooken. Auch für das Setzen von Eisschrauben machte das Eis meist einen recht soliden Eindruck.

Die Kletterei an der überhängenden Säule ohne richtigen Halt für die Füsse war aber dennoch sehr fordernd. Die athletische, kraftraubende und ausdauernde Kletterei verlangte mir alles ab. Nach dem Einstieg kletterte ich etwas nach links hoch bis unter das Dach und traversierte von dort wieder nach rechts in die Mitte der Säule. Zug um Zug kämpfte ich mich nach oben und musste immer wieder Schüttelpausen einlegen. Einige Male hatte ich die Befürchtung, meine Kraft würde nicht reichen bis zur nächsten Eisschraube.

Je näher ich zum Dach kam, desto schwieriger wurde es, die Eisgeräte in das überhängende Eis einzuschlagen. Die Eiszapfen boten keinen richtigen Halt für die Füsse und auch das Anbringen von Eisschrauben war an dieser Stelle schwer möglich. Runterklettern ging nicht mehr, also hiess es durchbeissen und möglichst schnell nach rechts weiter, um wieder Halt für die Steigeisen zu finden und die Arme etwas entlasten zu können. Mit letzter Kraft fand ich einen guten Hook rechts oben, an den ich mich hängen konnte. Dann merkte ich allerdings, dass der ganze Block darunter lose war und sich bewegte. Weil es sonst keine Hook-Möglichkeiten gab, zog ich mich langsam an dem losen Eisblock rüber und fand schliesslich wieder Halt mit den Steigeisen. Die nächsten Meter waren nur noch wenig überhängend und nach einem halben Duzend Spindrifts, die teilweise mehrere Minuten dauerten und mir immer wieder die Sicht durch das Visier und meine Brille verunmöglichten, war ich endlich hinter einer Säule, wo ich Stand machen konnte.

Ich hatte fest damit gerechnet, dass der Schneefall im Verlauf des Tages aufhören oder zumindest schwächer werden würde. Stattdessen schneite es immer stärker und die Spindrifts erwischten uns schon fast im 10-Minutentakt. Weil es schon dem Abend entgegen ging, entschlossen wir uns, nicht mehr bis ganz oben zu klettern und seilten uns an Reepschnüren ab, die wir durch Löcher im Eis fädelten.

Unten erwarteten uns unsere zugeschneiten Skischuhe, in die wir unsere kalten Füsse steckten. Die Abfahrt war dann auch noch mal eine Tortur, weil meine Stirnlampe in meiner Jackentasche versehentlich den ganzen Tag an war und ich beim Skifahren in der Dunkelheit und bei Schneesturm praktisch nichts mehr sehen konnte. Ab zwei Drittel des Weges mussten wir aber sowieso die Ski tragen, weil wir die Steine unter dem Neuschnee nicht mehr sehen konnten und die Skibeläge sonst noch komplett geschlissen hätten. Als sich nach einer halben Stunde Probieren auch noch die zugefrorene Autotüre öffnen liess, hatten wir es endlich geschafft. Was man nicht alles auf sich nimmt, um so eine grandiose Eisklettertour wie die Alphasäule klettern zu können..

«Alphasäule»
ED V, WI6+, 370 m
Breitwangflue, Kandersteg

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